Die letzten drei Minuten
Am Anfang war der der Big Bang, der Urknall - ein Tag ohne gestern - Jörn Michaels Bilder scheinen den Tag ohne morgen vorwegzunehmen. Zwei Ausstellungen und ein ziemlich üppiger Katalog gewähren erstmals einen umfassenden Blick auf die Bildwelt des 1975 in Annaberg-Buchholz geborenen Künstlers. Denn ein Künstler ist er zweifellos. Er produziert geradezu unermüdlich und ununterbrochen Bilder. Aus Kuchenpappen, aus erzgebirgischen Fundstücken wie Klöppeldeckchen, Aufklebern, Anhängern "Echt Erzgebirge", Zeitungsschnipseln. Er zeichnet, radiert, fotografiert, druckt Linolschnitte, Lithographien, er klebt Collagen, bastelt Assemblagen. Und vor allem tupft er Punkt für Punkt, hundert- und tausendfach eben diese Momentaufnahmen aus den letzten drei Minuten.
Hat das sich ausdehnende Universum samt dem sehr spät in die Geschichte eintretenden Menschen damit zu tun, den Laden zusammenzuhalten, scheint er bei Jörn Michael kurz vor der Auflösung zu stehen - wenn man seine Bilder pessimistisch interpretiert. Als "Ode an Sisyphos" eben, den unermüdlichen Arbeiter, der seine Arbeit nicht schafft. Die winzigen Teilchen, die sich mühsam in Jahrmillionen geordnet haben, zerfließen bei ihm in manchmal kaum wahrnehmbare Umrisse, Andeutungen, Schemen. Man könnte auch optimistisch sagen: Hier findet nur langsam und zögernd zusammen, was zusammen gehört. Was erst noch etwas werden will oder kann. Aber so viel Optimismus täte den Bildern und ihrem Schöpfer womöglich unrecht. "Die Welt ist verrückt", "Der karge Weg der Erkenntnis", "Säggssch - Hinterweltler/Hinterwäldler", "Alternative Losigkeit" - die oft anspielungsreichen Titel deuten eher auf ein pessimistisches Weltbild, das fest im Erzgebirge und in der bösen, neuen Welt verwurzelt ist, an der der Künstler erkennbar leidet.
Jörn Michael macht keine gefällige, womöglich gut verkäufliche Kunst. Er bezieht Stellung und macht sich damit bewusst auch angreifbar. In seinen Bildern findet sich alles wieder, was auch die Tagesnachrichten beherrscht. Vom empfindungsgestörten, teilgelähmten "Paresetiker" über den "Popolist", der sich "Pro Deutschland" mit Hitlerbärtchen äußert, ebenso wie der "Faule Apfel", der nicht weit vom braunen Stamm fiel, bis zum "Zeitgeist - Keiner will mich leiken" finden sich in Michaels Werk mehr oder weniger sarkastische, ironische, melancholische, entnervte und enttäuschte Anspielungen auf Verwerfungen der Gegenwart. Manchmal sind die etwas vordergründig-offensichtlich, etwa im "Deutschen Gruß", der natürlich eine Art Hitlergruß ist, eigens auch noch einmal aufs Blatt geklebt. Ebenso haben die "Patriotischen Europäer" mit Frakturschrift, Galgen und angedeutetem Hakenkreuz wenig Neues zu bieten. Im Gegenteil - dieses an sich lobenswerte, notwendige Engagement erreicht mit seiner aufdringlichen Vordergründigkeit vielleicht eher das Gegenteil, indem es leicht als auch nur "halbe Wahrheit" zu identifizieren ist. Die Welt ist komplizierter - wie etwa das "Echt Erzgebirge", ein Ölbild mit einem von Reifentieren gerahmten Gnom, dem gerade die kurvenreichen Bergstraßen durch den Kopf zu schießen scheinen.
Oft nimmt Michael in seinen Bildern Bezug auf andere Künstler und Schriftsteller: Francois Villon, Hans Eckardt Wenzel, Edgar Degas, Günter Grass. Auch den Katalog ergänzen viele, zu viele Texte, vor allem Gedichte, unter anderem von Susan Schramm, Susann Popp, Hans Brinkmann, Jörg Seifert und Stefan Mösch, die den kritischen Gehalt der Bilder zwar unterstreichen, in seiner Wirkung aber manchmal auch schmälern. Die Kunst besteht auch hier im Weglassen. Die besten Bilder aber sind zum einen die reduziertesten, zum anderen die, in denen Michael mit Sascha Seifert, einem jungen Mann mit Downsyndrom, zusammengearbeitet hat. Der fügt den wohlkalkulierten Bildern von Michael nur ein paar Buchstaben oder ein paar Striche hinzu - und schon bekommen diese eine ganz andere, ursprüngliche, anarchische Kraft. Oder aber, er verzichtet auf jegliche Anklänge an Gegenständliches, Figürliches, und bringt die Sache auf den Punkt, auf tausende Punkte - wie im titelgebenden "Ode an Sisyphos", in dem dank einer nur minimal strukturierten Punktemenge alles offen ist.
Matthias Zwarg
Freie Presse Chemnitz/Kultur
vom 20.07.2017