Presse
Linien gegen das Kleinkarierte

Jörn Michael aus Annaberg-Buchholz belegt mit Grafik den zweiten Platz  beim  Jugendkunstpreis
2001

Annaberg-Buchholz. Die weiße Figur fällt sofort ins Auge. Ungestalt löst sie sich aus dem Liniengewirr der Grafik heraus. Ein armartiger Auswuchs ist streng nach oben gereckt. So unbestimmt die Geste vielleicht auf den ersten Blick ist – sie wird eindeutig zum Hitlergruß, nachdem der Betrachter rechts die Fratze des Führers ausgemacht hat. Es lohnt sich, bei den Arbeiten des Annaberg-Buchholzer Künstlers Jörn Michael näher hinzuschauen. Erst mit dem zweiten oder dritten Blick ist einer Bildaussage auf die Spur zu kommen, nachdem sich einzelne Elemente und Symbole erschlossen haben. Mit Tusche gegen Neofaschismus Die Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Sachsen hat sich die oben beschriebene Grafik »Blindgänger« genau angesehen. Sie verlieh Michael für die Tuschezeichnung beim Jugendkunstpreis 2001 in der Sparte Bildende Kunst den zweiten Platz. Auf das vorgegebene Thema »Deutsch sein – In Deutschland leben – Was bedeutet das für Dich?« antwortete Michael mit der Grafik, in der er sich mit dem Neofaschismus auseinander setzte. Auslöser für die Arbeit war ein Fernsehbeitrag über junge rechte Gewalttäter. Unverständnis zu Ministerwort Kein positives Bild, welches der 26-Jährige da von Deutschland zeichnet. Auffällig, dass sich auch andere Teilnehmer im Wettbewerb zu Rechtsradikalismus äußerten – was Sachsens Sozialminister Hans Geisler in seiner Rede zur Preisverleihung in Dresden allerdings bedauert habe. »Da hätte ich ihm am liebsten gleich geantwortet – aber es gab keine Möglichkeit dazu. Die Jugendlichen drücken doch einfach ihre Perspektiviosigkeit aus«, sagt Michael und schüttelt fassungslos den Kopf. Die Reaktion des Ministers bewegt ihn sogar mehr als die Tatsache, beim Jugendkunstpreis den besten Platz belegt zu haben. (Es gab keinen ersten Preisträger.) »Ach, um die Platzierung sollte man keinen großen Aufriss machen«, beschwichtigt der Lehramtsstudent, dem es wichtiger ist, dass sich die Leute mit seinen Arbeiten auseinander setzen. Deshalb hört Jörn Michael besonders gern zu, wenn Kinder in seinen Arbeiten auf Entdeckungsreise gehen: Da tauchen auf einmal Esel in den Zeichnungen auf, und es werden Zwergenmützen gesichtet. Da spielt es keine Rolle mehr, dass der englische Titel der Werke für sie unverständlich ist – er scheint eh nur eine Hilfskonstruktion zu sein, ergibt sich meist aus der Musik, die Michael während des Zeichnens der feinen Linien hört. Blick für Strukturen Die Figuren und Gesichter kristallisieren sich in Laufe des Schaffensprozesses beinahe von selbst heraus. Sie werden vom Künstler in den Strukturen gesehen und dann betont oder kaschiert. Der Blick für Strukturen zeichnet ebenfalls Jörn Michaels Fotografien und zum Teil auch seine Gemälde aus. Von letzteren konnten sich die Annaberg-Buchholzer zur diesjährigen Ausstellung anlässlich des 500. Geburtstages von Buchholz »Lebensbekenntnisse« im Haus des Gastes »Erzhammer« ein Bild machen. Auch im »Kunst-Keller« sind die Arbeiten des jungen Künstlers oft zu sehen, der sich mit feinen Linien gegen das »Kleinkarierte« zur Wehr setzt.

Jeannine Helbig
Freie Presse 2001